„Danke, dass ihr so hart gearbeitet habt, um Menschen und Unternehmen überall zu helfen. Eure Beiträge waren von unschätzbarem Wert und wir sind dankbar dafür“, schrieb Alphabet-Chef Sundar Pichai kürzlich in einer Mail an seine Mitarbeiter. Diese bittersüßen Worte waren die Einleitung einer niederschmetternden Nachricht für Tausende Mitarbeiter im Unternehmen: Ihre Stellen wurden mit sofortiger Wirkung gestrichen. Die warmen Worte dürften demnach ein schwacher Trost für die insgesamt 12.000 „Googler“ – wie Pichai sie nennt – gewesen sein, die ihre Arbeit verloren haben.
Kahlschlag bei US-Tech-Konzernen: 12.000 Kündigungen bei Alphabet, 18.000 weitere bei Amazon
In den vergangenen Monaten überschlugen sich die Pressemeldungen dieser Art. Trotz Milliarden-Gewinnen (lt. Börsenblatt Amazon Netto-Gewinn 2021: 33,4 Milliarden Dollar, plus 56,8 % zum Vorjahr) setzten führende Tech-Globalplayer den Rotstift an – die Kündigungswelle grassiert. Wen trifft es als Nächsten? Mit dieser Frage sehen sich vorwiegend die Beschäftigten in der Tech-Branche konfrontiert. Die folgende Grafik spiegelt wider, wie der geplante Stellenabbau der US-Tech-Giganten aussieht:
Was steckt hinter der Kündigungswelle?
Die einander übertrumpfenden Hiobsbotschaften der Wirtschaftsnews zementieren diesen Eindruck einmal mehr. Kurzum, es ist ein wahrer Jammer! Scheinbar. Auch wenn nicht wegzuleugnen ist, dass wir uns in nicht einfachen Zeiten, wirtschaftlich wie gesellschaftlich, befinden: Wenn sogar Branchenprimus Zalando hunderte Stellen streicht, droht der deutschen Tech-Branche vielleicht ein ähnliches Schicksal wie der amerikanischen?
Aber schauen wir genauer hin: allein für Deutschland sieht die Beschäftigungslage Anfang 2023 geradezu rosig aus. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik gab es derart viele Beschäftigungsverhältnisse, wie im Januar 2023. Obwohl Deutschland seit dem letzten Jahr mit einer Energiekrise, einer hohen Inflation und einer Materialknappheit zu kämpfen hat, konnte die Anzahl der in Lohn und Brot stehenden ein Rekordniveau erreichen, wie vom Statistischen Bundesamt berichtet wurde. Die Zahl der Erwerbstätigen stieg um 589.000 oder 1,3 Prozent auf etwa 45,6 Millionen an. Dieses Niveau war das höchste seit der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990. Tatsächlich wurde der bisherige Höchststand von 45,3 Millionen Erwerbstätigen im Jahr 2019 um etwa 292.000 übertroffen.
Rückgang in der Coronazeit
Im Jahr 2020 hatte die Coronakrise dazu geführt, dass der zuvor über 14 Jahre anhaltende Anstieg der Erwerbstätigenzahl unterbrochen wurde. Tatsächlich kam es zu einem Rückgang um 362.000 oder 0,8 Prozent. Im Jahr 2021 stieg die Erwerbstätigkeit nur leicht an, und zwar um 65.000 Personen oder 0,1 Prozent.
Der Blick auf Deutschlands Arbeitsmarkt stimmt dagegen weiter zuversichtlich – trotz Pandemie, Krieg in der Ukraine oder den Auswirkungen des Brexits. Der deutsche Arbeitsmarkt ist stabil, wie die folgende Grafik eindrucksvoll darlegt:
Deutschland: So viele Erwerbstätige wie noch nie
Die für uns in Deutschland erst einmal guten Nachrichten vom Arbeitsmarkt sollen aber nicht über die möglichen Auswirkungen der Entlassungswelle in den USA hinwegtäuschen. Schließlich hat das erste europäische Tech-Unternehmen mittlerweile auch auf die Kostenbremse getreten: Spotify setzt 6 % der weltweiten Belegschaft, 600 an der Zahl, vor die Tür. – „Im Nachhinein weiß ich, dass ich im Vergleich zum Umsatzwachstum zu ambitioniert investiert habe“, wird Daniel Ek, CEO von Spotify, zitiert.
Aber auch Dax-Konzern SAP aus Walldorf in Baden-Württemberg (Gewinn 2021: 5,4 Milliarden Euro) streicht 3.000 Stellen! Demnach ist es nur verständlich, dass insbesondere hiesigen Mitarbeitern von Tech-Firmen der Angstschweiß auf der Stirn steht: Werden die Auswirkungen der US-Kündigungswelle weitere Kreise bei uns ziehen? Aber eins nach dem anderen. Betrachten wir die Mitarbeiterzahlen der US-Unternehmen näher. Immerhin hat Corona gerade dem E-Commerce im Jahr 2020 und 2021 einen nie dagewesenen Umsatzschub beschert!
Gründe für den Personalabbau
Die Ursachen für den beträchtlichen Personalabbau sind auf die derzeitige schlechte Wirtschaftslage zurückzuführen, die durch hohe Inflation, Zinsen und Rezessionssorgen verursacht wurde. Auch wenn gerade die Technologiebranche selbst zu einem großen Anteil die „Schuld“ an der großen Kündigungswelle trägt, war sie in den vergangenen Jahren doch zu optimistisch und vorwiegend auf starkes Wachstum ausgerichtet. Microsoft hat zwischen 2012 und 2022 an der Börse jedes Jahr Gewinne erzielt und seine Aktien legten 2019 um etwa 59 Prozent und 2021 um 65 Prozent zu. Die Aktien des Google-Mutterkonzerns Alphabet stiegen 2021 um mehr als 80 Prozent. Andere Technologiefirmen zeigten ein ähnliches Wachstum, bevor sie 2022 abrupt einbrachen.
Infolgedessen haben Technologieunternehmen in den vergangenen Jahren Tausende Stellen geschaffen, um mit dem schnellen Wachstum und den optimistischen Prognosen Schritt zu halten. Thomas Lehr, Kapitalmarktstratege beim Vermögensverwalter Flossbach von Storch, führt dies auch auf die durch die Pandemie bedingte Sonderkonjunktur zurück. Die Digitalisierung schreitet weiter voran, aber nicht mehr in dem gleichen Tempo wie während des Höhepunkts der Pandemie.
Allerdings ging die Tech-Branche davon aus, dass sich das starke Wachstum fortsetzen würde. Seit 2019 hat Microsoft seine Belegschaft um mehr als 77.000 Mitarbeiter auf 221.000 vergrößert. Der Facebook-Mutterkonzern Meta hat von 2019 bis Ende 2021 mehr als 27.000 Mitarbeiter hinzugewonnen, und die Mitarbeiterzahl von Amazon hat sich in dem gleichen Zeitraum sogar mehr als verdoppelt auf 1,6 Millionen weltweit Beschäftigte Ende 2021. Bei Apple stieg die Zahl der Mitarbeiter im gleichen Zeitraum von 137.000 auf 154.000, jedoch nicht in demselben Tempo wie bei anderen Unternehmen. Und ganz ehrlich, es ist wahrlich nichts Neues, dass gerade bei schnell expandierenden Start-ups mehr Mitarbeiter eingestellt werden, um schlichtweg auf den ggf. weiteren Expansionskurs vorbereitet zu sein. Stagniert das erhoffte Wachstum, werden die zusätzlich eingestellten Mitarbeitenden zum „vermeidbaren Kostenfaktor“ – zwangsläufig wird man sich von ihnen trennen müssen.
Ist die Kündigungswelle nur ein Medienhype?
Auch wenn diese bewusst nüchterne und technokratische Betrachtung nur wenig darüber hinwegtröstet, dass das Damoklesschwert über den Häuptern der Arbeitnehmenden in der Tech-Industrie schwebt und deren wirtschaftliche Existenz aus der Bahn zu werfen droht. Eine Relativierung der Situation ist daher mehr als unangebracht! Dennoch, eine Frage wirft sich nach Analyse der tatsächlichen – im Kontext betrachteten – Zahlen dann doch unweigerlich auf: Wem oder was nützen diese medienwirksamen Schlagzeilen? Wird dadurch nicht, eher subtil, an der Angstschraube der Belegschaften gedreht? Natürlich sind Entlassungen in diesen Dimensionen dramatisch, das soll hier keinesfalls bagatellisiert werden. Die Antwort auf diese Frage ist eben keine einfache und wird, je nach Perspektive, sehr wahrscheinlich unterschiedlich ausfallen.
Schlussendlich Mitarbeiterzuwachs trotz Entlassungen
Die Zahlen, die Scott Galloway, Professor für Marketing an der New York University (NYU) Anfang 2023 auf seiner LinkedIn-Seite veröffentlicht hat, lassen die gegenwärtige Arbeitsmarktsituation in einem anderen Licht erscheinen: Berücksichtigt man die massive Personalaufstockung, die während der Pandemie stattfand, bedeuten die Massenkündigungen der letzten Wochen, gemessen an der absoluten Zahl, immer noch einen Mitarbeiterzuwachs.
Ein Beispiel: Von 77.000 neu eingestellten Mitarbeitern während der Pandemie, mussten im Zuge des Personalabbaus „nur“ 10.000 Mitarbeiter das Unternehmen verlassen. Die nachstehende Grafik verdeutlicht dies einmal mehr:
Einen weiteren Einblick zum Thema „The Rise and Fall of the Big Tech Companies“ erläutert der NYU-Marketing Professor Scott Galloway im folgenden Clip:
Nachahmungseffekt – Ein weiterer Grund für Entlassungen?
Bei etablierten und sturmerprobten – und liquiden – Unternehmen müsste man eigentlich eine gewisse Standfähigkeit voraussetzen dürfen, kurzzeitige Volatilität sollte sich daher nicht in den Mitarbeiterzahlen niederschlagen. Zumal in den Massenentlassungen ein gewisser Nachahmungseffekt, eine „soziale Ansteckung“, in den Unternehmen entstünde, laut Prof. Jeffrey Pfeffer, ein renommierter Professor an der Stanford-University. „Die Unternehmen imitieren einander“, sagte er weiter in einem Interview mit einer Universitätszeitung. „Davon abgesehen, tut es der Moral und Motivation der verbleibenden Mitarbeitenden nicht gerade gut“, so Pfeffer weiter. Er ist sich zudem sicher, dass die Performance nach Krisen in Unternehmen besser sei, wenn sie niemanden entlassen hatten.
Es bleibt spannend. Einerseits entlässt man qualifiziertes Personal, das anderswo, unter anderem in Deutschland, händeringend gesucht wird; gerade in der Ausgestaltung von neuen Arbeitsplatzkonzepten scheint hier noch viel Luft nach oben zu sein. Wie können – auch international – diese Bedürfnisse von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden künftig besser vernetzt werden?
In Anbetracht der Tatsache, dass der Fachkräftemangel im IT-Bereich weiterhin eines der zentralen Probleme der deutschen Wirtschaft bleiben wird, demografische Probleme mal ausgeklammert, bleibt eine gewisse Ratlosigkeit zurück. Allein im November letzten Jahres waren immerhin 137.000 Stellen deutschlandweit unbesetzt. Obendrein werden die späten Babyboomer in den nächsten Jahren dem Arbeitsmarkt fehlen, sie gehen in Rente. Bis Mitte der 2030er-Jahre wird in Deutschland die Zahl der Menschen im Rentenalter (ab 67 Jahren) um etwa 4 Millionen auf mindestens 20,0 Millionen steigen.
Hier ist die Politik gefragt, endlich mit praktikablen und niedrigschwelligen Migrationskonzepten, Top-Talenten und qualifizierten, gut ausgebildeten Menschen eine echte Perspektive in der EU zu eröffnen und das Thema legale Einwanderung endlich ernsthaft anzugehen.
Demnach bleibt abzuwarten, ob sich der Trend, der eigentlich keiner ist, in Deutschland fortsetzen wird. Dennoch entbehrt es nicht einer gewissen Komik, dass Arbeitsminister Hubertus Heil die Unternehmen am 17.02.2023 aufrief, nunmehr auf flinke Senioren zurückzugreifen, weil der Fachkräftemangel ganze Branchen lahmzulegen droht.