Im Dezember 2021 hat der Rat der Europäischen Union (ECOFIN) eine Reform der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie beschlossen, die den Mitgliedstaaten deutlich mehr Spielraum bei der Festlegung nationaler Umsatzsteuersätze einräumt. Diese Änderung markiert eine der größten Neuausrichtungen der europäischen Umsatzsteuerpolitik seit Jahrzehnten – mit potenziell weitreichenden Folgen für Steuerpolitik, Wettbewerb und Nachhaltigkeit.
Was wurde beschlossen?
Mit der Richtlinie (EU) 2022/542 wurde die Mehrwertsteuerrichtlinie 2006/112/EG angepasst. Kern der Reform ist die Lockerung der bisherigen Vorgaben zu den Steuersätzen:
- Mitgliedstaaten dürfen nun bis zu zwei ermäßigte Steuersätze unter 15 % anwenden,
- zusätzlich einen reduzierten Satz unter 5 % oder sogar einen Nullsatz,
- und sie können frei entscheiden, auf welche Güter oder Dienstleistungen diese Sätze angewendet werden – solange diese in Anhang III der Richtlinie aufgeführt sind.
Damit fällt die strikte Trennung zwischen „Regelsteuersatz“ und „ermäßigtem Steuersatz“ zunehmend weg. Der bisherige Standardrahmen von 5 % bis 25 % wird durch eine artikelspezifische Flexibilisierung ersetzt.
Politischer Hintergrund
Der ECOFIN wollte den Mitgliedstaaten ermöglichen, Steuerpolitik gezielter als Lenkungsinstrument einzusetzen – etwa zur Förderung ökologisch nachhaltiger Produkte oder zur Entlastung sozial schwächerer Haushalte. Gleichzeitig sollten die neuen Freiheiten Missbrauch und Wettbewerbsverzerrungen verhindern: So müssen alle Staaten künftig sicherstellen, dass die Gesamtsystematik der Mehrwertsteuer haushaltsneutral und unionskonform bleibt.
Was bedeutet das für die Praxis?
Für Unternehmen und Verbraucher:innen könnten künftig stärkere Preisunterschiede innerhalb der EU entstehen – je nach nationaler Steuerpolitik. Während etwa nachhaltige Lebensmittel in einem Land mit 1 % besteuert werden könnten, bliebe in einem anderen der klassische Satz von 10 % oder mehr bestehen.
Auch für die Steuerverwaltung bedeutet die Reform einen Umbruch: komplexere Klassifikationen, mögliche Anpassungen von ERP-Systemen und neue Pflichten im grenzüberschreitenden Handel.
Fazit
Die Flexibilisierung der Mehrwertsteuersätze ist ein Paradigmenwechsel: Sie verbindet nationale Steuerautonomie mit europäischer Harmonisierung – ein Spagat, der neue politische Gestaltungsspielräume eröffnet, aber auch Risiken für die Einheit des Binnenmarkts birgt. Das „Ende des Einheitssteuersatzes“ ist damit eingeleitet – aber seine Folgen werden sich erst in den kommenden Jahren zeigen.





